Rinchnach - Guntherort und ehem. Klosterort

Rinchnach Gunther- und ehemaliger KlosterortSt. Gunther - OrtsgründerUngarische Mutter?Gu-Sy 2010, Dr. Körmendi 
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Dr. Tamás Körmendi
„Ungarn im frühen 11. Jahrhundert und das Wirken des heiligen Gunther im Lande“
Gunthersymposiumsbeitrag, Rinchnach, 9.10.2010

 

Die Verwandtschaft zwischen dem heiligen Gunther und Stephan dem Heiligen
Es gibt nur eine Quelle, die von der Verwandtschaft des deutschen Einsiedlers und des ersten ungarischen Königs zeugt: die Gunthervita, deren lateinischer Text Stephan einen cognatus von Gunther nennt. Dieser problematisch interpretierbare Ausdruck kann praktisch Verwandtschaft jeder Art und jeden Grades bedeuten. Für die Interpretation von cognatio zwischen Gunther und König Stephan sind zwei Lösungen bekannt. Der mehr verbreiteten Meinung nach soll Gunther nicht mit Stephan, sondern mit dessen Gemahlin in Blutverwandtschaft gestanden haben. Der deutsche Einsiedler sei demnach nur durch Königin Gisela mit dem ersten ungarischen König verwandt gewesen sein. Auch historische Überlegungen halten diese Möglichkeit für wahrscheinlich. Es ist leichter anzunehmen, dass der von den thüringischen Herzogen stammende Gunther eher mit der Familie von Gisela, mit den bayerischen Liudolfingern in direkter Verwandtschaft stehen konnte als mit der des Großfürsten Géza. Thüringen liegt nämlich ziemlich weit von den damaligen ungarischen Siedlungsgebieten, und thüringische Grafen spielten in der ungarischen Geschichte der ersten Jahrtausendwende unseren Kenntnissen nach keine Rolle.
Der andere Standpunkt wurde von dem in der Emigration lebenden ungarischen Geschichtsforscher, Szabolcs von Vajay, formuliert. Dieser sprach sich dafür aus, dass es zwischen Gunther und Stephan doch eine Blutverwandtschaft gegeben habe: „Die Vita des Seligen Gunther... nennt hier den ungarischen König Stephan Gunthers cognatus, womit immer ein männlicher Nachkomme gemeinsamer Vorfahren, also gewiss ein Blutsverwandter, gemeint ist. Den Grad dieser Verwandtschaft stellt das Chronicon Bohemiae fest: Der ungarische König Stephan war der avunculus des seligen Gunther, also der Bruder seiner Mutter.“ Der Standpunkt Vajays wurde sowohl von der deutschen als auch von der ungarischen Fachliteratur stark kritisiert. Meiner Ansicht nach interpretiert er die Bedeutung des Ausdrucks cognatus einfach falsch, da dieses Wort – worauf ich bereits hingewiesen habe –auch einen Blutsverwandten des Ehepartners bedeuten kann. Das Wort avunculus im Text vom Chronicon Bohemiae wurde meistens in der Bedeutung „Onkel (mütterlicherseits)“ gebraucht. Aber auch das ist kein eindeutiger Beweis. Vajay hat nämlich außer Acht gelassen, dass die böhmische Quelle ein im 15. Jahrhundert entstandenes, kontaminiertes Stoppelwerk ist. Da das uns überlieferte Material dieser böhmischen Quelle etwa viereinhalb Jahrhunderte nach den von uns untersuchten Geschehnissen zusammengestellt wurde, ist sein Quellenwert zumindest hinsichtlich der Vorgänge um die erste Jahrtausendwende von vornherein stark in Frage zu stellen. Außerdem ist es auch nicht besonders schwer herauszufinden, woher die Angabe bezüglich der Verwandtschaft von Stephan und Gunther in den Text von Chronicon Bohemiae gekommen ist. Unsere Quelle kennt nämlich in Bezug auf die ungarische Tätigkeit Gunthers genau dasselbe einzige Detail (das Pfau-Wunder), wie unsere andere die Verwandtschaft zwischen dem ungarischen Herrscher und dem deutschen Einsiedler erwähnende Quelle: die Gunthervita. Der Verdacht scheint also ziemlich begründet zu sein, dass die Angaben in der untersuchten böhmischen Chronik gerade der auch von uns zitierten Vita des deutschen Einsiedlers entnommen wurde. Das Wort avunculus kam so wahrscheinlich einfach als bedeutungsverwandter Ausdruck zu cognatus, als Resultat von Textbanalisierung in den Text des Chronicon Bohemiae betrachtet werden.
Die Wahrscheinlichkeit der Annahme Vajays wird außer den philologischen Überlegungen auch durch historische Argumente geschwächt. Unsere Quellen enthielten nämlich nur über die Eheschließungen der vier Kinder vom Großfürsten Géza belastbare Daten. Aus diesen ergibt sich das überhaupt nicht überraschende Bild, dass Géza – und später auch sein Sohn Stephan – nur solche dynastische Beziehungen geschlossen habe, aus denen sie unmittelbaren politischen Nutzen habe erhoffen können. Sie versuchten entweder mit den Herrschern der benachbarten Gebiete Ehen zu schließen oder strebten danach, die rivalisierenden ungarischen Adeligen mit Verheiratungen an ihre Seite zu stellen. Es ist bekannt, dass Géza um 995 eine seiner Töchter Gavril-Radomir, den Thronfolger des mit dem ungarischen Siedlungsgebiets benachbarten bulgarischen Staates heiraten ließ. Um 996/997 holte er für seinen Sohn aus dem Bayerischen Herzogtum eine Ehefrau. Stephan setzte diese Politik fort. Er ließ 1009 eine seiner Schwestern den Herrscher des ebenfalls benachbarten Staates Venedig, Otto Orseolo, heiraten, um 1005/1010 (oder vor 1003) hatte er seine andere Schwester Aba Samuel den Kawarenfürsten des Mátra-Gebietes (oder eventuell den Vater von Samuel) heiraten lassen. Diese Ehen hatten ausnahmslos zum Ziel, die Macht des Großfürsten Géza und später die von Stephan sowohl gegen die inneren, als auch gegen die äußeren Angriffe im möglichst größten Maße zu sichern. Es ist aber nicht klar, welchen Vorteil Géza in dem von Vajay angenommenen – und vor 985 geschlossenen – Ehebund gesehen hätte, der die Familie des ungarischen Großfürsten mit den Grafen des weit entfernt liegenden Thüringens verbunden hätte. Die Forschungen von Eduard Hlawitschka und Gabriele Rupp haben obendrein bewiesen, dass die Familie Gunthers – die später von Käfernburg genannt wurde – mit den thüringischen Ekkehardinern und dadurch mit den bayerischen Liudolfingern, der Familie der Königin Gisela verwandt gewesen sind.
Die cognatio zwischen dem heiligen Gunther und Stephan dem Heiligen wird also nur dann richtig interpretiert, wenn man sich nach der stark überwiegenden Meinung der Forschung richtet und den Eremit als Blutverwandten der in Bayern geborenen Gisela betrachtet. Gunther war also durch die Königin cognatus von Stephan. Auf die Frage, welchen Grad der Verwandtschaft der Begriff cognatus (mit seiner ziemlich weiten Bedeutung) zum Ausdruck bringt, kann aus Mangel von weiteren Angaben nicht abschließend beantwortet werden.